Digitale DemokratenWelche politische Kraft entwickelt sich gerade im Netz, welche Bedeutung kommt Bloggern bei der politischen Willensbildung zu? Erlebt des Internet jetzt seinen zweiten politischen Frühling?

Das waren die Fragen denen sich Constanze Kurz (Sprecherin des Chaos Computer Club), André Martens (Vorsitzender der Piraten in Baden-Württemberg) und Mohammad Abazid, Betreiber der Facebookgruppe „Die Syrische Revolution 2011“ auf dem Podium der UTOPIE STATION: Digitale Demokraten des Nationaltheater Mannheim stellten.

Die syrische Revolution

Zunächst schilderte Mohammad ein junger Informatikstudent die Situation seiner Familie, die im syrischen Homs lebt. Im Stadtviertel Khaldeha in dem seine Verwandten leben entsprangen die Proteste. Er schildert die Situation der Demonstranten sehr fatalistisch. Vor jeder Protestaktion verabschieden sich die Demonstranten von ihren Familien – Rückkehr ungewiss.

Um die Proteste vor Ort zu untrerstützen und Protestaktionen zu koordinieren hat Mohammad die Facebookgruppe, inzwischen die erfolgreichste Protestseite ihrer Art und wichtigstes Informationsmedium der Exil-Syrer im deutschen Sprachraum, gegründet. Auf die Frage nach der Vertraulichkeit der Informationen die die Gruppe, auch per Skype, miteinander austauscht erwidert er, dass es wohl vereinzelt Versuche der Unterwanderung gab, diese aber schnell aufgeflogen sind und dass er nicht davon ausgeht, dass ihre Kommunikation abgehört werde.

Hier widersprach Constanze Kurz energisch. Sie ist davon überzeugt, dass das syrische Regime sehr wohl in der Lage sei die Internetkommunikation abzuhören und zu filtern. Mit Hilfe westlicher Abhör- und Filtertechnik wäre die Revolution fast im Keim erstickt hätte nicht die schiere Masse des Protests die technischen Sperren überschwemmt. Auch wird ihrer Meinung nach facebook in der westlichen Welt viel zu viel Bedeutung beigemessen. Ohne die physische Umsetzung der Proteste auf der Straße kann keine Revolution erfolgreich sein. André Martens pflichtet ihr bei und gibt zu bedenken dass die jetzt gesammelten Daten für den Fall des Scheiterns der Revolution als Basis für gezielte Repressalien herangezogen werden können.

The Spy Files

Nahrung erhalten diese Befürchtungen durch die neuen Dokumente, die Wikileaks unter dem Titel „The Spy Files“ nun veröffentlicht hat. Sie beinhalten das who is who der Sicherheits- und Abhörfirmen mit ihren Produktkatalogen und Verträgen. Eine interaktive Übersichtskarte der Überwachungsfirmen und deren Angebote finden sich unter spyfiles.org.

Wo Repressalien drohen trauen sich die Leute zu demonstrieren und wir, die es straflos dürfen haben das Gefühl nichts bewegen zu können, das ist paradox.
Constanze Kurz

Foto: Stephan Röhl / Böllstiftung

Dieses Zitat ist ein Sinnbild für den zweiten Teil des Abends, der sich den Entwicklungen in Deutschland zuwendet. Was bedeutet es für die parlamentarische Demokratie, wenn die Bürger ihre Meinung statt an der Wahlurne lieber in Blogs und auf facebook kundtun? Wie weit sind wir von einer digitalen Demokratie entfernt?

Ein Grund für die abnehmende Protestkultur in Deutschland ist sicher der allgemeine Wohlstand der zur Zersplitterung der Interessen führt. Es gibt nicht mehr das eine gemeinsame Ziel. ie einen sind für mehr Umweltschutz, andere für Legalisierung von Drogen, andere wiederum gegen den Ausbau des Frankfurter Flughafens. Diese Interessenvielfalt macht es den einzelnen Initiativen zunehmends schwer Demonstranten zu mobilisieren. Der Klick auf den gefällt mir Button fällt so viel leichter.

Wie schwierig der Umgang mit neuer Technik der parlamentarischen Demokratieauch 2011 noch fällt zeigen die aktuellen Debatten um die Überwachung durch den Staatstrojaner sowie die Vorratsdatenspeicherung.

Während André Martens die Angst der Politiker vor der Macht des Internet als Triebfeder für die Vorratsdatenspeicherung sieht ist es für Constanze Kurz nur der Ausdruck der tiefen konservativen Wertvorstellung. Die Reaktion der Verantwortlichen auf die Veröffentlichungen des CCC zum Staatstrojaner sind wie immer ausweichend. Es wird nur zugegeben was nicht zu leugnen ist, systematische Verstöße gegen die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts (Urteil vom 27. Februar 2008) werden kleingeredet. Unser Handy ist inzwischen zu unserem ausgelagerten Gehirn geworden – ob und wem wir die Infiltration erlauben wollen ist eine Wertefrage über die eine Grundsatzdebatte ansteht.

als ich 1994 angefangen habe, da war Internet noch grüne Schrift auf schwarzem Grund.
André Martens, Landesvorsitzender der Piratenpartei in BW

Logo der Piratenpartei

Digitale Demokratie

Die Piratenpartei versucht ihre internen Entscheidungsprozesse zumindest digital über das Piratenpad zu koordinieren bzw. im Verband Berlin über eine technische Platform die mit dem Liquid Feedback Prinzip arbeitet auch zu entscheiden. Der Versuch mehr Bürgerbeteiligung auf digitalem Wege, zumindest bei der Enquêtekommission Internet und digitale Gesellschaft zu ermöglichen scheiterte zuletzt.

Einig sind sich Martens und Kurz in ihrer Utopie darin, dass es am Ende nach der Phase des gläsernen Bürgers zwangsläufig zu einem gläsernen Staat kommen wird. Damit die parlamentarische Demokratie mit der elektronischen Bürgerbeteiligung zusammen wachsen kann braucht es Informationsportale mit niedrigschwelligen Rückmeldungskanälen.

Für Mohammad spielen diese Fragen derzeit noch keine Rolle – im Kampf der Syrer geht es zunächst einmal um grundlegende Rechte, für ihn ist eine digitale Demokratie Zukunftsmusik.

 

Mit einer recht eigenwilligen Interpretation des Songs „Schnappi – das kleine Krokodil“, die an die Klassiker von Trio erinnert entlässt Oliver Augst das Publikum mit einem Ohrwurm in die Nacht.

 

Die Nächste Utopie Station bringen Heinrich Böll Stiftung, Ernst Bloch Zentrum und das NTM am 12. Januar auf das Podium. Die Gäste werden dann eine neue Utopie zum Thema „Neues Geld“ entwickeln.


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